- germanische Religion und Mythologie: Asen und Vanen, Asgard und Midgard
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Ohne das komplexe bildlich-archälogische Überlieferungsmaterial Skandinaviens und vor allem ohne die Literatur Islands hätten wir nur geringe Kenntnisse über die religiösen Vorstellungen der Germanen. Nur die »Germania« des Römers Tacitus, ein Werk über den Ursprung und die Sitten der Germanen, bietet aus früher Zeit ein vergleichsweise ausführliches, letztlich aber doch lückenhaftes Material, dessen Deutung immer umstritten blieb. In der Geschichtsschreibung germanischer Völker der Völkerwanderungszeit, etwa der Langobarden und der Goten, und in weit verstreuten frühmittelalterlichen Überlieferungssplittern aus dem Bereich der Alemannen, der Franken, der Sachsen und Angelsachsen finden sich immerhin so viele Hinweise, dass ein Kernbestand germanischer Götter und Göttinen, bisweilen mit ihren Funktionen, greifbar wird: Donar, Wodan, Ziu, Baldr, Freyja, Nerthus. Ob es aber ein wenigstens in Grundzügen einheitliches, den gesamten germanischen Kulturbereich umfassendes mythologisches Vorstellungssystem gab, lässt sich nicht erkennen, vielmehr dürfte mit zahlreichen regional und zeitlich verschiedenen Entwicklungen zu rechnen sein.Allein in der altnordischen - insbesondere der altisländischen - Überlieferung treffen wir auf ein Quellenmaterial, das vielfältige Einblicke in Ordnung und Wesen nordgermanischer religiöser Vorstellungen erlaubt. Die wichtigsten Werke in diesem Zusammenhang sind die in Island entstandene »Lieder-Edda«, eine Sammlung metrisch gebundener, kürzerer Götter- und Heldenlieder (die einzige vollständige Handschrift, der »Codex Regius«, stammt von circa 1270) und die »Prosa-Edda« des Isländers Snorri Sturluson aus dem 13. Jahrhundert. Die isländische Überlieferung macht mit einer ausgedehnten Götterfamilie bekannt, die ihre letzte Ausformung jedoch erst nach Verschmelzung der beiden ehemals verfeindeten Göttergeschlechter, der Asen und der Vanen, erhalten haben dürfte. Zu den wichtigsten Göttergestalten der Asen gehören Odin, der Vater der Götter, Gott des Krieges, Gott der im Kampf Gefallenen, der Magie und Zauberei, des Wissens und der Dichtung. Im westgermanischen Gebiet lautete sein Name Wodan. Weiterhin zählen dazu seine Gattin Frigg, Göttin der Frauen und der Verwandtschaft und deren gemeinsamer Sohn Baldr, der lichte Gott des Guten, Friedvollen und Schönen. Thor (im Westgermanischen Donar) ist der Sohn Odins und der Riesin Jörd (Erde), ist Stärkster der Asen, Bekämpfer der Riesen, Gott des Donners und der Naturgewalten. Es finden sich weiterhin seine schwer zu charakterisierende Frau Sif, ihr Sohn Ull, vielleicht Gott des Zweikampfes und des Skifahrens. Heimdall fungiert als Wächter der Götter und gilt als Vater der Menschen. Týr ist ein Gott des Himmels, des Krieges und der Versammlung. Zu den Asen zählt schließlich auch der schillernde, trickreiche und den Göttern verderbliche Loki. Die wichtigsten Repräsentanten der Vanen sind der Meeresgott Njörd und das von ihm abstammende Geschwisterpaar Freyja und Freyr, beide bedeutende Fruchtbarkeitsgottheiten. Die eher an Leistungen des Geistes, der Zauberei, der Runenmagie und der Dichtkunst, aber auch an Kriegstaten und Herrschaft ausgerichteten Asen repräsentierten wohl eine meist als jünger angesehene, auf kriegerischer Gefolgschaft basierende Schicht. Die Vanen dagegen dürften als Gottheiten der Fruchtbarkeit eher einer archaischen Ackerbauer- und Fischerkultur verhaftet gewesen sein.Im wohl geordneten eddischen Kosmos haben die Götter ihre Wohnsitze in Asgard. Dort liegt auch Walhall, ein Wohnort Odins, eine prächtige Halle, in der die von ihm ausgewählten gefallenen Krieger, die Einherjer, ein paradiesähnliches Leben führen. Die Menschen bewohnen Midgard, den »Wohnort in der Mitte«. Die Wohnsitze der Götter und der Menschen bilden den zentralen Bereich des Kosmos, die eigentliche »Welt«. Sie ist von einem gewaltigen Ozean umgeben, in dem die ungeheure Midgardschlange lebt und die Welt umschlingt.Außerhalb der »Welt« der Götter und Menschen liegen Utgard, Wohnort dämonischer Wesen, und Jötunheim, die im Osten liegende Welt der Riesen. Die Riesen treten meist als Widersacher, bisweilen auch als Helfer der Götter auf. Beide, Riesen wie Götter, stammen letztlich vom Urriesen Ymir ab. Die Götter erschlugen Ymir und erschufen aus seinem Körper alle Gewässer, die Erde, den Himmel und schließlich Midgard. Letzter der großen kosmischen mythologischen Orte ist Hel, der unterirdische Aufenthaltsort der Toten, der jedoch, im Gegensatz zur christlichen »Hölle«, kein Ort der Strafe ist. Alle Orte werden von den Wurzeln des Weltenbaums, der immergrünen Esche Yggdrasill, zusammengehalten. Zugleich ist Yggdrasill, wörtlich »Odins Pferd«, die große Weltachse, die den Himmel stützt und ihn mit den darunter liegenden Welten verbindet. Unter den Wurzeln, nahe des Urdbrunnens (»Schicksalbrunnen«) ist der Versammlungsort der drei Nornen, die das Schicksal der Menschen weben, aber auch der Beratungsort der Götter, die aus diesem Brunnen Weisheit schöpfen.Dieses komplexe kosmische System steht jedoch nicht unangefochten da, denn an den Wurzeln der Weltesche nagt beständig der leichenfressende Totendrache Nidhögg. Zahlreiche Schlangen setzen ihrem Stamm zu, und vier Hirsche weiden ihre Äste ab - Yggdrasill zittert aus Furcht vor dem herannahenden Weltende. »Ragnarök«, das »Geschick der Götter« heißt das Weltende in der »Lieder-Edda«. Die »Prosa-Edda« stellt das es als »Finsternis der Götter« dar; auf diese Interpretation bezog sich Richard Wagner in der Wahl seines Titels »Götterdämmerung« für den letzten Teil des »Rings des Nibelungen«.Vielleicht ist der in der Edda zu beobachtende eschatologische Zug erst ein Ergebnis mythographischer Systematisierung, vielleicht auch Reflex einer christlichen Perspektive. Denn nach dem Untergang der Götter, nach dem Weltbrand, nach dem Versinken der Erde im Meer taucht eine gänzlich neue, friedliche Welt aus dem Wasser empor, in der der Tod überwunden zu sein scheint. Und die zuvor mit Fehlern behafteten Götter treffen geläutert auf grünen Gefilden wieder zusammen. Ob der zuletzt erscheinende, nicht näher benannte »Mächtige, Starke, der alles steuert.. .« etwas mit dem neuen. Christenglauben zu tun hat, muss unentschieden bleiben.Dr. Harald EhrhardtVries, Jan de: Altgermanische Religionsgeschichte, 2 Bände. Berlin 31970.
Universal-Lexikon. 2012.